Leingang – Story


Johann Leingang

Unser Namensvetter, Johann Leingang aus Augsburg, dessen Vorfahren aus Rülzheim/Germersheim nach Russland ausgewanderet sind, hat mir eine Kurzfassung seiner jüngeren  Familiengeschichte  zukommen lassen, die ich auf dieser Seite veröffentliche. Das nebenstehende Bild zeigt ihn in seinen früheren Jahren.  

Ich denke, dass das, was er schildert, so oder so ähnlich auch die anderen Russland-Auswanderer erlebt haben, – ein interessantes Stück Geschichte einer Familie, die unseren Familiennamen trägt und vielleicht sogar über Generationen zurück mit mit selbst und auch mit anderen Leingangs , die aus der Südpfalz stammen, verwandt ist.Darüber hinaus verfügt Johann Leingang auch über eine Vielzahl von weitergehenden Informationen und Daten über Pfälzer-  und Baden-Württembergische  Familien, die, wie seine Vorfahren, damals nach Russland ausgewandert sind. So z. B. auch Daten und Namen von Leingang – Familien aus dem  Raum Rülzheim/Germersheim, die er  auszugsweise auf der  unten folgenden  Liste zusammengestellt hat.
Wer an weiteren Informationen interessiert ist, oder sich persönlich mit Johann Leingang über dieses Thema austauschen  möchte, kann über folgende e-mail Adresse mit ihm  selbst Kontakt aufnehmen:
johann@leingangs.de
An dieser Stelle sei auch noch auf die  Webseite und die Zeitschrift der Landsmannschaft der Russlanddeutschen
Volk auf dem Weg “  verwiesen. Dort finden sich neben allgemeinen Informationen auch weitere Erlebnisberichte von Deutschen Familien, deren Vorfahren nach Russland ausgewandert  und die inzwischen wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind.


  Hier nun ein Auszug aus der jüngeren Familiengeschichte von Johann Leingang aus Augsburg:


GESCHICHTE MEINER FAMILIE LEINGANG (Kurzfassung):

Um die Geschichte unserer Familie umfassend darzustellen, muss ich weiter ausholen, dass heißt, das Schicksal von mehreren Generationen wenn auch ganz kurz zu erwähnen. Das ist sehr wichtig insbesondere, weil es um die Auswanderung aus Deutschland nach Russland geht mit all den Ereignissen, die im Laufe von mehr als 200 Jahren passiert sind. Nur so bekommt man ein mehr oder weniger umfassendes Bild.
Beginnen möchte ich damit, dass alle ausgewanderten Leingangs bis weit in
5.-6. Generation in Landau (Ukraine) geboren wurden. Das erleichtert die Nachforschung bis Anfang des 19. Jahrhunderts, als Georg Leingang mit Frau Barbara, den Kindern Jakob, Philipp und Peter aus Rülzheim/Germersheim nach Russland (Ukraine) ausgewandert sind. 1810 wurde das Dorf Landau in der Ukraine gegründet. Man kann sich gut vorstellen, dass zu den Gründern dieses Dorfes auch unsere damaligen Vorfahren gehörten, weil alle Ankömmlinge ihre Dörfer nach den Namen ihrer deutschen Heimat benannt haben.
Dies und vieles andere kann man aus dem Buch von Dr. Karl Stumpp:
Die Auswanderung aus Deutschland nach Russland in den Jahren 1763 bis 1862“ entnehmen. Nach 1809 bis in die 60.-70. Jahre kamen noch mehrere Leingang-Familien aus Rülzheim/Germersheim nach Landau in die Ukraine.
Die Zahl dieser Familien ist stets gewachsen. Landau und die anderen deutschen Dörfer in der Südukraine entwickelten sich zu blühenden Ortschaften mit wohlhabenden Menschen dank ihrem Fleiß.
Da kam der 1. Weltkrieg.  Schnell hat sich vieles geändert. Mit Neid schauten die Russen auf diese reichen Dörfer und es verbreiteten sich Gerüchte, dass die Einwohner nur warteten bis die Kaiserarmee einrückt. Dies war das Ende des friedlichen Zusammenlebens. Und dann kam auch noch die Rote Oktoberrevolution 1917 mit all den Schrecken der Verfolgung, Enteignung und Verschleppung. Höhepunkt dieser schrecklichen Ereignisse waren die Jahre 1934-1938. Jede deutsche Familie in allen Dörfern kann ein Lied davon singen, Schikanen, Verhaftungen Verbannungen nach Sibirien oder auch Erschießungen waren an der Tagesordnung. In diesen Jahren gab es keine Familie, die vor solchen Schrecken verschont blieb. Meinen Vater Thomas hat man in Nacht und Nebel wegen nichts verhaftet. Er war 2 Jahre im Gefängnis. Manchmal reichte ein unvorsichtig gesprochenes Wort, um oft auf nie mehr Wiedersehen zu verschwinden.
Die Leingangs lebten in Landau (Ukraine)  bis Einzug der Wehrmacht im Juli 1941. Vorher haben die Russen versucht die deutschen Dörfer nach Osten zu „evakuieren“. Landau blieb jedoch verschont, weil die Wehrmacht sehr schnell vorrückte. Die deutschen Soldaten wunderten sich, als sie plötzlich beim Einzug ins Dorf die schönen wie am Schnürchen gezogenen Straßen mit akkuraten sauberen Häusern, umgeben von blühenden Gärten, sahen und auch die Menschen erlebten, die sie auf Deutsch begrüßten, in einem vor 200 Jahren in der Pfalz gesprochenen Dialekt. Viele Soldaten haben bei Familien Quartier genommen.

Ich kann mich noch gut erinnern, dass bei uns ein deutscher Soldat wohnte. Mama hat ihm die Wäsche gewaschen, zum Essen eingeladen, Er hat seiner Mutter in Deutschland geschrieben. Eines Tages kam er vom Dienst mit einem Paket von seiner Mutter. Darin waren Süßigkeiten, die er dann an uns verteilte. Seine Mutter war unserer Familie sehr dankbar.

Auf den Straßen haben sich immer wieder Menschen versammelt, mit Soldaten gesprochen, alte deutsche Lieder gesungen. Ich kann mich jetzt noch nach über 70 Jahren an manches Lied von damals erinnern.

Das Leben im Dorf hat sich bald normalisiert. Jeder ging seiner Arbeit nach, in der Schule wurden alle Fächer in der Muttersprache unterrichtet. Und doch hatte sich vieles geändert: Man sprach überall deutsch, ohne Angst zu haben.Außer unserer Familie lebten damals in Landau noch einige Leingangs. Dies habe ich erst nach Rückkehr nach Deutschland 1978 erfahren. Hier einige Vornamen, die ich mit Erlaubnis hier erwähne:
Robert (1898-1988), Markus 1902-1946), Rafael (1900-1987). Einen anderen Rafael Leingang habe ich 1961 in der Stadt Alma-Ata (Hauptstadt von Kasachstan), wo ich bis 1959 studierte, ganz zufällig gefunden. Es war mein Onkel, dessen Sohn Anton (mein Cousin) ich hier in Kaufbeuren besucht und von seinem Vater erzählt habe. Die Kinder und Enkel dieser Leingangs leben jetzt in Augsburg und München.
Auch meine zwei Söhne, vier Enkel und ein Urenkel leben hier.
Ich bin überzeugt, dass die in Deutschland vor über 200 Jahren gebliebenen Leingangs und wir, die Nachkommen der Ausgewanderten, im weiten Sinne des Wortes verbunden sind. Jeder hatte sein eigenes Schicksal, hat vieles Gute und Schlechte erlebt. Und doch verbindet uns etwas Gemeinsames. Zumindest ist dies mein inneres Gefühl. Dazu eine kleine Episode: Von 1954 bis 1959 studierte ich wie schon erwähnt, in Alma-Ata, Nach dem Tod des Diktators Stalin durften auch Deutsche studieren. In diesen 5 Jahren habe ich immer wieder versucht bei den Behörden bis hinauf zum Parlament, dem Roten Kreuz und der Regierung meine Verwandte zu finden. Manchmal habe ich Antwort bekommen: immer war die Antwort die gleiche: In der UdSSR gibt es keine Leingangs.

2 Jahre später 1961 habe ich ganz zufällig erfahren, dass in derselben Stadt, nur wenige Haltestellen von meiner Hochschule eine Familie Leingang lebt.
Ich arbeitete damals als Lehrer bzw. Dolmetscher in Nowosibirsk (Sibirien). Sofort bin ich nach Alma-Ata gefahren, habe diese Familie auch gefunden: Es war mein Onkel Rafael. Er hat mich zuerst nicht erkannt (zuletzt hat er mich noch als Kind in Landau gesehen). Ich habe aber ihn sofort erkannt, weil er meinem Vater sehr ähnlich war. Man kann sich leicht vorstellen, was dies für Gefühle in mir für das unmenschliche Regime erweckte. 1943 hieß es, dass alle Einwohner von Landau zusammen mit der Wehrmacht nach Westen in Richtung Deutschland abziehen. Das in 150 Jahren erworbene Hab und Gut blieb zurück, und doch wollte niemand bleiben. Die Fahrt in Planwagen dauerte einige Monate, immer in der Nähe der Front und immer unter dem Schutz der Wehrmacht, die die endlosen Fahrzeugkolonnen von den Angriffen der Russen schützte und mit allem Notwendigen versorgte.

Im August 1943 kamen wir nach Krakau, wo wir „entlaust“ wurden. Danach ging es nach Kaisershöh, ein Dorf in der Nähe von Gnesen bzw. Posen.
In Kaisershöh besuchte ich die Schule. Vater und mein Bruder wurden in die Wehrmacht eingezogen. Meine 6-jährige Schwester und ich blieben mit unserer Mutter alleine. Im Januar 1945 rückten die Russen immer näher und wir drei machten uns wieder auf den Weg in Richtung Westen. Von da an und bis 1952 haben wir von unserem Vater und Bruder nichts mehr gehört. Die Flucht dauerte nicht lange.
Bald haben die Russen uns eingeholt, wir wurden registriert und in ein Sammellager gesteckt. Es gab lange Verhöre. Jedes mal kam Mama mit entsetztem, verweinten Gesicht zurück. Dann hieß es, wir werden „nach Hause“ per Zug fahren.
Das „nach Hause“ war aber eine grausame Lüge: mehrere Monate waren wir unterwegs bis wir im August 1945 in einem kasachischen Dorf ankamen. Die Frauen und Kinder hat man zur Strafe hier her gebracht, damit sie in täglicher Arbeit das verbüßen, was die Deutschen an der UdSSR angerichtet haben. Wir kannten kein Wort Russisch, haben ein Jahr lang die Sprache gelernt und durften dann die Schule besuchen. Was wir und andere deutschen Familien (Frauen und Kinder) alles erlebt haben, ist schwer für jemand zu verstehen, wer nicht eingeweiht ist. Nur ein paar Worte: Mama hat von früh bis spät in der Näherei gearbeitet, wurde beauftragt andere auszubilden, ohne jegliche Bezahlung und unter ständigen Erniedrigungen und Beschimpfungen.  Wir waren jahrelang jeden Tag hungrig, haben immer gefroren (Temperatur monatelang bis unter 40-45 Grad, im Sommer bis über 40-45 Grad Hitze). 1952 haben wir aus Genf vom Internationalen Roten Kreuz eine Nachricht erhalten, dass unser Vater am Leben ist und uns sucht. Bald haben wir auch einen Brief und ein Foto von ihm aus Augsburg erhalten. Von da an haben wir des öfteren Pakete erhalten, deren Inhalt unser Leben merklich erleichterte. Die Behörden haben immer wieder versucht,  Mama zu überzeugen, dass unser Vater doch zu seiner Familie „zurückkehre“.  Wir aber wussten schon damals, dass er nur kurze Zeit bei uns bleiben wird und dann wegen   „Hochverrat“  25 Jahre „Gulag“ bekommt.
1953 ist der Diktator Stalin gestorben und ich bekam die Möglichkeit zu studieren. Aber auch da hat man mich nicht in Ruhe gelassen.  Ich möge doch meinem Vater schreiben, er soll zu seiner Familie kommen. Mein Studium habe ich 1959 abgeschlossen (Germanistik und Slawistik). Bald habe ich eine Arbeit als Lehrer bzw. Übersetzer in Nowosibirsk bekommen. 1959 haben wir aus Österreich, wo mein Bruder mit Familie lebte, eine Nachricht vom Tod unseres Vaters erhalten.
Das war eine schlimme Nachricht,  auch deswegen, weil wir nun keinen Anspruch mehr  hatten auszureisen: Nur im Wege der Familienzusammenführung durfte man, wenn überhaupt, eine Ausreise beantragen. Wir haben von 1952 bis 1977 jedes Jahr unsere Ausreise beantragt. Immer vergebens, trotz Helsinker Abkommen.
Das Leben in Nowosibirsk wurde zur Gratwanderung zwischen erfolgreicher Arbeit und Drohung verhaftet zu werden.

Wir haben uns entschlossen nach Mittelasien umzuziehen, weil da die Chancen besser waren. Endlich haben wir im Herbst 1977 die Nachricht erhalten, dass wir ausreisen dürfen, und zwar innerhalb von 2 Wochen. Ab sofort wurde ich entlassen. Meine zwei Söhne (12 bzw. 17 Jahre alt) durften nicht mehr in die Schule. lm Januar 1978 sind wir nach Moskau geflogen.
Wir meldeten uns bei der deutschen Botschaft, bekamen Tickets. Am 24. Januar 1978 landeten wir in Frankfurt/Main. Das Jahrzehnte lange Bemühen hat sich endlich gelohnt: Wir waren frei und zu Hause.
Mein älterer Sohn ist 55 Jahre alt, Chemiemeister, der zweite Sohn ist Ingenieur/Informatiker. Eine Enkelin (35 Jahre alt) ist Gymnasiallehrerin, ein Enkel (30 J.) arbeitet als Mechatroniker, der andere studiert IT, die Jüngste und ein Urenkel sind Schüler.

Diese Geschichte könnte genauso für jede andere Familie von Deutschen aus Russland passen. Jede Familie wurde immer mit Demselben konfrontiert. Kein Wunder, dass die überwiegende Mehrheit nur das eine Ziel hatte: Bei kleinster Möglichkeit weg von hier, aus diesem Land. Hier gab es keine Zukunft für uns und die kommenden Generationen, wenn wir unsere Identität nicht aufgeben wollen.

Johann Leingang, im November 2015


Soweit die Schilderung von Johann Leingang.



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